27.09.2016

J. A. Brillat-Savarin - Gastrosoph


Das Buch "Die Physiologie des Geschmacks" von Jean Anthelme Brillat-Savarin, 1826 herausgegeben, gilt zu Recht als eine Säule der französischen Lebensart. Ach, wenn doch unsere zeitgenössischen Ernährungsberater und Mediziner nur ein wenig von der Kunst der Beobachtung dieses großen Gastrosophen mitbekommen hätten. Er riet den wenigen Zeitgenossen, welche damals mit einem "diabète gras" (fetter Diabetes) geschlagen waren, zu einer streng zucker- und stärkearmen Diät. Ein Beleg für die Richtigkeit der Aussage Marie Antoinettes: "es gibt nichts Neues zu entdecken, wir hatten es nur vergessen". Hier seine:


Einundzwanzigste Betrachtung
Ueber die Fettleibigkeit

Wäre ich wohlbestallter Arzt und Doctor der Medicin geworden, so würde es mein Erstes gewesen sein, eine gute Monographie über die Fettleibigkeit zu schreiben. Damit hätte ich meine Herrschaft in diesem Zweige der Wissenschaft begründet und nun den doppelten Vortheil genossen, die Leute, die sich am besten befinden, zu Kranken zu haben und mich tagtäglich von der schönern Hälfte des Menschengeschlechts belagert zu sehen, denn ein richtiges Maß von Fülle und Rundung zu besitzen, nicht zu viel und nicht zu wenig, ist ja für die Frauen das Studium ihres ganzen Lebens.

Was ich nicht gethan habe, wird ein anderer Arzt thun, und wenn er zugleich tüchtig, verschwiegen und ein hübscher Bursche ist, so prophezeie ich ihm wunderbare Erfolge.

Inzwischen aber will ich doch den Reigen eröffnen, denn in einem Werke, das den Menschen, in sofern er sich ernährt, zum Gegenstande hat, ist ein Abschnitt über die Fettleibigkeit unerläßlich.

Ich verstehe unter Fettleibigkeit jenen Grad von Fettanhäufung, wo die Glieder, ohne dass das Individuum krank ist, allmählich an Umfang zunehmen und ihre ursprüngliche Gestalt und Harmonie verlieren.

Eine Art von Fettleibigkeit beschränkt sich auf den Unterleib. An Frauen habe ich dieselbe nie beobachtet: da diese nämlich im allgemeinen eine weichere Faser haben, so verschont die Fettleibigkeit, wenn sie ein Mitglied der schöneren Hälfte der Menschheit befällt, keinen Theil des Körpers. Ich nenne diese Art von Fettleibigkeit Gastrophorie und die damit Behafteten Gastrophoren (Bauchträger). Ich gehöre selbst zu dieser Klasse, aber obgleich mit einem stattlichen Bäuchlein gesegnet, habe ich immer noch dürre Waden und vorstehende Sehnen wie ein arabischer Renner.

Nichtsdestoweniger habe ich meinen Bauch immer für einen gefährlichen Feind angesehen. Ich habe ihn besiegt und auf eine majestätische Rundung beschränkt – aber ich mußte kämpfen, um zu siegen, und was in diesem Abschnitte Gutes enthalten sein mag, das verdanke ich einem dreißigjährigen Kampfe.

Ich beginne mit einem Auszuge aus mehr als fünfhundert Zwiegesprächen, die ich mit Tischnachbarn hatte, welche entweder schon von der Fettleibigkeit befallen oder doch von ihr bedroht waren.

Der Dicke: Mein Gott, was für köstliches Brot! Woher beziehen Sie das?

Ich: Von Limet in der Rue de Richelieu, dem Bäcker ihrer Kgl. Hoheiten des Herzogs von Orleans und des Prinzen Condé. Ich nahm ihn, weil er mein Nachbar ist, und behalte ihn bei, weil ich den ersten Bäcker der ganzen Welt in ihm erkannt habe.

Der Dicke: Das werde ich mir merken. Ich esse viel Brot, und bei solchen Brötchen, wie diese sind, könnte ich mich alles übrigen entschlagen.

Ein zweiter Dicker: Aber was machen Sie denn? Sie schöpfen die Fleischbrühe von Ihrer Suppe ab und lassen den schönen Reis auf dem Teller?

Ich: Das ist eine besondere Diät, die ich mir zum Gesetz gemacht habe.

Der Dicke: Eine schlechte Diät, mein Herr! Reis ist eine Delicatesse für mich, ebenso wie die Mehlspeisen, die Pasteten und dergleichen: das sind die nahrhaftesten, billigsten und leicht verdaulichsten Speisen.

Ein ganz Dicker: Haben Sie die Güte, mein Herr, und reichen Sie mir die Kartoffeln her, die da vor Ihnen stehen. Man ist so im Zuge, daß ich nachher zu spät zu kommen fürchte.

Ich: Hier sind die Kartoffeln, mein Herr.

Der Dicke: Aber auch Sie werden sich doch bedienen? Der Vorrath reicht für uns beide aus, und nach uns die Sündflut!

Ich: Ich danke, mein Herr. Ich betrachte die Kartoffel nur als ein Schutzmittel gegen Hungersnoth, im übrigen aber finde ich, daß sie entsetzlich fade schmeckt.

Der Dicke: Eine gastronomische Ketzerei! Es giebt nichts Besseres als Kartoffeln. Ich esse sie auf jede Art zubereitet, und sollten noch im zweiten Gange Kartoffelgerichte auf den Tisch kommen, so gebe ich hiermit die übliche Erklärung zur Wahrung meiner Rechte ab.

Eine dicke Dame: Sie würden mich sehr verbinden, mein Herr, wenn Sie mir die Bohnen von Soissons reichen lassen wollten, die ich da unten auf dem Tische sehe.

Ich: Oh in Soissons zu sein, wo die dicken Bohnen gedeih'n

Die Dame: Spotten Sie nicht, die Bohnen sind ein wahrer Schatz für jene Gegend. Paris bezieht von dort für ganz bedeutende Summen. Auch die kleinen Ackerbohnen, die man für gewöhnlich englische Bohnen nennt, empfehle ich ihrer Gewogenheit, grün gekocht und gegessen, sind sie ein Essen für Götter.

Ich: Fluch den Ackerbohnen! Fluch den Bohnen von Soissons! ...

Die Dame ( mit entschlossener Miene): Ich verlache Ihren Fluch. Sollte man nicht meinen, Sie machten für sich ganz allein ein Concil aus?

Ich ( zu einer andern): Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer herrlichen Gesundheit, Madame. Wie mir scheint, sind Sie ein wenig beleibter geworden, seit ich das letzte Mal die Ehre hatte, Sie zu sehen.

Die Dame: Das verdanke ich wahrscheinlich meiner neuen Diät.

Ich: Wie so?

Die Dame: Ich nehme nämlich seit einiger Zeit zum Frühstück eine gute Fleischsuppe, eine Portion wie für zwei, und was für eine Suppe! Der Löffel würde darin stehen. –

Ich ( zu einer dritten): Madame, wenn Ihre Augen mich nicht täuschen, so würden Sie ein Stück von dieser Apfeltorte annehmen? Ich werde Sie zu Ihrer Genugtuung anschneiden.

Die Dame: Bitte, mein Herr, diesmal täuschen meine Augen Sie wirklich. Ich habe hier zwei Lieblingsgerichte, die aber beide männlichen Geschlechts sind. Jenen Reiskuchen da mit der goldglänzenden Kruste und dies colossale Savoyer Zuckerbrot. Denn merken Sie sich ein für alle Mal, ich schwärme für süßes Backwerk. 

Ich ( zu einer vierten): Wünschen Sie vielleicht, Madame, daß ich, während man da unten politisirt, diese Marzipantorte für Sie zur Rede stelle?

Die Dame: Wenn Sie die Güte haben wollen – nichts geht mir über Backwerk. Wir haben einen Kuchenbäcker zum Miether, und ich glaube, meine Tochter und ich verzehren bei ihm den ganzen Miethzins, wenn nicht gar mehr.

Ich ( nachdem ich die junge Dame einer Musterung unterworfen): Diese Diät bekommt Ihnen beiden vortrefflich. Ihr Fräulein Tochter ist wirklich ein sehr schönes Mädchen, vollkommen entwickelt.

Die Dame: Werden Sie glauben, dass ihre Freundinnen ihr bisweilen sagen, sie sei zu fett?

Ich: Das geschieht vielleicht aus purem Neid ...

Die Dame: Das ist schon möglich. Uebrigens verheirathe ich sie jetzt, und das erste Kindbett wird schon alles in Ordnung bringen. -


Durch Gespräche dieser Art verschaffte ich mir Klarheit über eine Theorie, deren erste Grundlage ich einer Beobachtung an andern Geschöpfen als dem Menschen entnommen hatte, nämlich daß die Fettleibigkeit zur Hauptursache stets eine Diät hat, in der die Mehl- und Stärke-Elemente allzu sehr vorherrschen. Auf dieselbe Weise vergewisserte ich mich auch, dass eine derartige Ernährungsweise stets die nämliche Wirkung hat.

Die fleischfressenden Thiere, wie z. B. der Wolf, der Schakal, die Raubvögel, der Rabe u. s. w., werden in der That niemals fett.

Auch die Pflanzenfresser werden selten fett, wenigstens so lange das Alter sie nicht ruhig macht. Dagegen mästen sie sich schnell und zu jeder Zeit, sobald man sie mit Kartoffeln, Getreide oder sonstigen Mehlarten füttert.

Bei den Wilden und in den Gesellschaftsklassen, wo man arbeitet, um zu essen, und isst, um zu leben, tritt die Fettleibigkeit niemals auf.


Der Brillat-Savarin, ein Weichkäse 
aus Rohmilch mit 75% Fettgehalt 


Ursachen der Fettleibigkeit

Im Anschluß an die vorstehend aufgeführten Beobachtungen, von deren Richtigkeit sich jeder überzeugen kann, ist es leicht, die Hauptursachen der Fettleibigkeit anzugeben.

Die erste ist die natürliche Anlage des Individuums. Beinahe alle Menschen werden mit gewissen Anlagen geboren, die schon auf ihrer Physiognomie ausgeprägt stehen. Von hundert Personen, die an der Schwindsucht sterben, haben neunzig braunes Haar, ein langes Gesicht und eine spitze Nase. Von hundert Fettleibigen haben neunzig ein rundes Gesicht, runde Augen und eine Stumpfnase.

Es giebt also unzweifelhaft Personen, die gewissermaßen zur Fettleibigkeit prädestinirt sind, und deren Verdauungskräfte unter sonst gleichen Umständen eine größere Quantität Fett aus den Nahrungsstoffen ausziehen.

Diese physikalische Wahrheit, von der ich fest überzeugt bin, beeinflußt in gewissen Fällen meine Anschauungsweise auf eine recht unangenehme Art.

Trifft man in der Gesellschaft ein kleines, lebhaftes, rosiges Fräulein mit keckem Stumpfnäschen, gerundeten Formen, weichen Patschhändchen, kurzen und fleischigen Füßchen, so ist alle Welt entzückt und findet sie reizend, während ich, durch die Erfahrung belehrt, sie mit Blicken betrachte, die um zehn Jahre vorauseilen, schon die Verwüstungen sehe, welche die Fettleibigkeit alsdann unter diesen thaufrischen Reizen angerichtet haben wird, und im Stillen über Uebel seufze, die noch gar nicht existiren. Dies vorgängige Mitleid ist ein peinliches Gefühl und bietet einen Beweis mehr für die Wahrheit, dass der Mensch noch weit unglücklicher sein würde als jetzt, wenn er die Zukunft vorhersehen könnte.

Die zweite Hauptursache der Fettleibigkeit bilden die Mehlspeisen, die der Mensch zur Grundlage seiner täglichen Nahrung macht. Wie schon gesagt, werden alle Thiere, die von Mehl enthaltenden Stoffen leben, fett, ob sie wollen oder nicht, und auch der Mensch unterliegt diesem allgemeinen Gesetze.

Noch schneller und sicherer bringt das Mehl seine Wirkung hervor, wenn es mit dem Zucker verbunden wird. Der Zucker und das Fett enthalten als gemeinsames Princip den Wasserstoff, beide sind verbrennlich. Mit dieser Beimischung wird aber die Stärke um so wirksamer, da sie nun dem Geschmacke weit mehr zusagt und man doch die gezuckerten Nebenspeisen erst dann zu essen pflegt, wenn der natürliche Appetit bereits befriedigt und nur noch jener Luxusappetit vorhanden ist, den man durch alles anstacheln muss, was die ausgesuchteste Kunst und der verlockendste Wechsel herzugeben vermögen.

Nicht weniger fettbildend wirkt das Stärkemehl, wenn es als Beimischung zu Getränken, wie z. B. zum Bier und ähnlichen, in den Körper eingeführt wird. Die staunenerregendsten Bäuche sind daher auch bei den biertrinkenden Völkern zu finden, und einige pariser Familien, die 1817 aus Sparsamkeit Bier tranken, weil der Wein zu theuer war, sind dafür mit einer Leibesfülle belohnt worden, mit der sie durchaus nichts mehr anzufangen wissen …


Das Schicksal der Nationen
hängt von der Art ab,
wie sie sich ernähren.
(Brillat-Savarin)